Die Tote im Wald

Die Tote im Wald

Samstag, 28. August 2004

In den vergangenen Tagen kletterte das Thermometer stellenweise auf über 30 Grad. Die Sonne strahlte am Himmel mit den Menschen auf der Erde um die Wette. Doch an diesem Wochenende präsentiert sich der Sommer von seiner schlechten Seite. Dicke, graue Regenwolken hängen am Firmament. Hier und da prasselt ein Regenschauer herab. Für Familie Becker aus dem nordrhein-westfälischen Ratingen bedarf es aber mehr als tristes Wetter und ein bisschen Regen, um sie vom Pilzesammeln abzuhalten.

Vater, Mutter und ihre drei Kinder machen sich am Nachmittag des Tages auf den Weg in das beliebte Waldstück „Hugenpoetbusch“ im Stadtteil Hösel. Gemütlich trotten die Eltern mit ihrem Nachwuchs den Waldweg entlang. Nur dem 10-jährigen Simon* geht es nicht schnell genug. Der Junge beschließt, im Hüpfschritt ein Stückchen vorzulaufen.

Simon hat seine Familie schon einige Meter hinter sich gelassen. Plötzlich entdeckt er in der Nähe des Waldrandes etwas Weißliches, verdeckt von Ästen und Reisig, zwischen den hochgewachsenen Bäumen am Waldboden liegen. Verstohlen wirft er einen Blick zurück auf seine Familie, die immer noch im Schlenderschritt den Waldweg entlangläuft. „Was solls“, entscheidet der 10-Jährige achselzuckend und schleicht in das Waldstück hinein. Eigentlich soll er den Wanderweg nicht verlassen – aber die Neugier ist zu groß. Vorsichtig nähert sich das Kind dem weißen Etwas. Je näher er kommt, desto riesiger werden seine Augen. Sofort macht Simon auf dem Absatz kehrt und rennt zurück zu seinen Eltern.

„PAPA! PAPA!“ Die aufgeregten Rufe des Jungen zerreißen die idyllische Stille des Waldes. „Da liegt eine Leiche!“. Ungläubig probiert der Vater, den 10-Jährigen zu beruhigen. Scheinbar geht die Fantasie seines Sohnes mit ihm durch. Der Mann weist seine Familie an, auf dem Waldweg zu warten. Er selbst geht zügigen Schrittes zu der Stelle, die ihm sein Junge beschrieben hat – nur um sicherzugehen. Dort angekommen, stellt Herr Becker entsetzt fest, dass sich Simon nicht geirrt hat.

Die Kriminalbeamten skizzieren später in ihrem Bericht folgendes Bild vom Fundort der sterblichen Überreste: „Der engere Leichenfundort liegt zwischen fünf Bäumen und hat eine Ausdehnung von etwa 15 x 10 Metern. In diesem Bereich liegt in Rückenlage ein menschliches Skelett, das komplett mit Ästen bedeckt ist, aufgrund des fehlenden Blattwerkes aber gut erkennbar ist. Im unmittelbaren Bereich des Leichenfundortes kann eine umgedrehte Bierkiste der Marke „Oettinger“ objektiviert werden, in deren Umkreis teils geleerte und teils noch volle Bierflaschen und entsprechende Glassplitter mit dem „Oettinger-Etikett“ liegen. (…) Darüber hinaus findet sich hier eine Feuerstelle, die offensichtlich von menschlicher Hand nach Art eines Lagerfeuers angelegt worden ist.“

 

Die ungewöhnliche Auffindesituation des Leichnams veranlasst die Kriminalbeamten, einen Rechtsmediziner des Universitätsklinikums Düsseldorf herbeizurufen. Erst als der Experte am Waldstück „Hugenpoetbusch“ ankommt, setzen die Kriminalbeamten die Begutachtung des Skeletts fort. Der Rechtsmediziner stellt fest, dass sich das Körpergewebe nahezu vollständig in Fettwachs verwandelt hat. Fettwachs bezeichnet ein Stoffgemisch, das etwa vier bis sechs Wochen nach Eintritt des Todes auftreten kann, wenn sich der Leichnam in einer feuchten Umgebung befindet. Das Fettwachs entsteht durch eine Veränderung vor allem des Unterhautfettgewebes.

 

Der Mediziner betrachtet den Schädel der Leiche. Doch auf Anhieb kann er keine Verletzungen der knöchernen Strukturen ausmachen. Derweil macht die Kriminalbeamten stutzig, dass die Leiche nur mit ein Paar Socken bekleidet ist. Langsam legt sich die Dunkelheit über den „Hugenpoetbusch“. Damit die Arbeit weitergehen kann, kommt das Technische Hilfswerk zur Unterstützung. Mit Scheinwerfern leuchten sie das Waldstück großflächig aus.

Es dauert einige Stunden, bis sie die Leiche bergen können. Nachdem die sterblichen Überreste behutsam in zwei weißen Leichenbergesäcken verstaut und auf dem Weg in das rechtsmedizinische Institut sind, beenden die Kriminalpolizisten ihre Arbeit in dieser Nacht.

 

Montag, 30. August 2004

Zwei Tage später findet die Leichenschau im Institut für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Düsseldorf statt. Das Hauptaugenmerk legen die Rechtsmediziner dabei auf die Bestimmung der Identität. Der Zustand der Leiche erschwert den Experten ihre Arbeit jedoch erheblich. Die Mediziner können aber herausfinden, dass es sich bei den Leichenteilen um die sterblichen Überreste einer Frau handelt.

Im Unterkiefer entdecken die Rechtsmediziner einen einzelnen Zahn. Die Erstellung eines Zahnschemas, um so vielleicht die Identität der Toten zu klären, erübrigt sich somit. Doch am rechten Schienbein der verstorbenen Frau finden die Mediziner einen alten Knochenbruch, der seinerzeit operativ versorgt wurde. Sie machen vier Verschraubungen und eine zusätzliche Nagelung am Knochen ausfindig. Eine der Schrauben ist lose und kaum noch im Knochen verankert. Auf der Schraube entdecken die Rechtsmediziner eine siebenstellige Nummer. „5721019“ ist in das Titan eingraviert. Daneben steht das Wort „Aesculap“. Scheinbar handelt es sich dabei um den Hersteller. Am dazugehörigen rechten Wadenbein finden die Mediziner Spuren eines verheilten Knochenbruches.

Doch ob die Frau eines natürlichen Todes gestorben oder getötet wurde, lässt sich während der Leichenschau nicht feststellen. Die Mediziner beschließen daher, alle knochenhaltigen Leichenteile in einer Seifenlauge auszukochen. „Mazerieren“ nennen Experten diesen Vorgang. Vielleicht, so die Hoffnung, können sie nach der Entfernung der massiven Fettwachsanhaftungen den erfolgreichen Nachweis oder Ausschluss von Spuren einer Gewalteinwirkung führen.

Während die Rechtsmediziner sich um die Mazeration der Leichenteile kümmern, nehmen die Kriminalbeamten Kontakt zum Hersteller der im Knochen gefundenen Schrauben auf. Scheinbar kommt es aber zu einem Missverständnis zwischen den Mitarbeitern des Herstellers und den Kriminalisten: Die Kripobeamten verfolgen nur den Weg einer der Schrauben, da sie davon ausgehen, dass es sich bei den eingravierten Zahlen um eine Individualnummer handelt.

Zunächst machen sich die Ermittler in ein Düsseldorfer Krankenhaus auf. Aufwendige Auswertungen der vorhandenen Operationsberichte folgen. Und tatsächlich: Die Kripobeamten werden fündig. Allerdings ergibt sich nur kurz darauf ein nicht wegzudiskutierendes Argument, das gegen den Abschluss der Identifizierungsarbeit spricht: Die Patientin, von denen die Beamten zunächst glauben, dass es sich bei ihr um die unbekannte Tote handeln könnte, erfreut sich bester Gesundheit. Auch die laufenden Ermittlungen bei der Vermisstenstelle des Polizeipräsidiums Düsseldorf und des LKA Nordrhein-Westfalen bringen kein Licht ins Dunkel.

 

Bald ist der aufwendige Prozess der Mazeration abgeschlossen. Die Rechtsmediziner betrachten die sauberen Knochen der unbekannten Toten. Dabei machen sie einige interessante Entdeckungen. An Rippen, Brustbein, Brust- und Lendenwirbelsäule, als auch an der rechten Beckenschaufel, sehen die Experten zahlreiche, eindeutige Spuren einer sogenannten scharfen Gewalteinwirkung. Zudem machen sie an einigen Rippen und an zwei Mittelhandknochen Bruchstellen aus. Nun besteht kein Zweifel mehr: Die Frau ist einem brutalen Tötungsdelikt zum Opfer gefallen. Die Rechtsmediziner können jetzt auch den 31,5 cm langen Marknagel aus dem rechten Schienbeinknochen herauspräparieren.

Mit den neuen Erkenntnissen der Mediziner sprechen die Kriminalbeamten erneut bei der Firma „Aesculap“ vor. Es stellt sich heraus, dass es sich bei den eingravierten Nummern nicht um Individual- sondern um Seriennummern handelt. Der Hersteller selbst führt nun intensive Recherchen zum Verbleib ihrer Produkte durch. So finden die Mitarbeiter des Betriebes heraus, dass ein Großhändler für medizinische Geräte weltweit die einzige Firma ist, die Verrieglungsschrauben und Marknägel aus der gesuchten Serie erhalten hatte.

Der Großhändler für medizinische Geräte wird von den Kriminalbeamten kontaktiert. Interne Recherchen führen die Beamten zu einem Essener Krankenhaus. Die Klinik hatte im Sommer 1997 zwei von insgesamt drei Marknägeln bekommen, die der Großhändler zuvor bei dem Hersteller eingekauft hatte.

Eineinhalb Monate nach dem Fund der unbekannten Toten machen sich vier Kriminalbeamte auf den Weg in jenes Essener Krankenhaus. Sie haben ein ambitioniertes Vorhaben. Ihr Ziel ist es, alle Operationsberichte ab dem Jahr 1996 durchzuackern, um die Protokolle ausfindig zu machen, die eine entsprechende Operation dokumentierten, die auch bei ihrer unbekannten weiblichen Leiche durchgeführt wurde. Die Kriminalisten können es kaum glauben, als ihnen schon nach kurzer Zeit ein Operationsbericht vom Winter 1998 in die Hände fällt.

Die Krankenakte gehört zu Sandra Nieder*. Die junge Frau war am 18. Januar 1998 mit einer knöchelnahen Fraktur des rechten Unterschenkels in das Essener Krankenhaus eingeliefert worden. Die Klinikärzte versorgten den Unterschenkelbruch mit einem äußeren Verschraubungssystem. Elf Tage später musste sich Frau Nieder erneut einer Operation unterziehen. Die Chirurgen entfernten die Verschraubungen und schlugen einen Marknagel in das Schienbein der Frau, der mit jeweils zwei Verrieglungsschrauben fixiert wurde.

Für die Kriminalbeamten besteht kein Zweifel mehr. Die aufwendige Identifizierungsarbeit ist abgeschlossen. Bei der Toten im Wald handelt es sich ohne Zweifel um Sandra Nieder. Die Beamten probieren noch am gleichen Tag so viel wie möglich über die getötete Frau herauszufinden. Sie erfahren, dass Frau Nieder zum Zeitpunkt ihres Todes in einer Essener Mietwohnung lebte. Sie hatte keine Arbeit und bezog Sozialhilfe. Die junge Frau war Mutter zweier Kinder, die aber nicht bei ihr lebten.

Ein Team von Kriminalbeamten macht sich auf den Weg zu den leiblichen Eltern von Sandra. Sie überbringen dem Ehepaar die traurige Nachricht vom Tod ihrer Tochter und informieren sie über den aktuellen Stand der Ermittlungen. Damit sie die Identifizierung durch eine DNA-Untersuchung bestätigen lassen können, bitten sie die Nieders um eine Speichelprobe. Sandras Eltern stimmen zu.

Seit fünf Jahren hätten sie ihre Tochter nun nicht mehr gesehen, berichtet das Ehepaar den Ermittlern. Aber vor einigen Monaten habe die Polizei schon einmal bei ihnen geklingelt. Sie ermittelten, weil jemand eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte. Nach dem Besuch bei Sandras Eltern stellen die Kriminalbeamten Nachforschungen bei der zuständigen Dienststelle des Polizeipräsidiums Essen an. Dort erfahren sie, dass ein Bekannter der toten Frau am 2. Mai 2004 eine Vermisstenanzeige bei den Beamten aufgegeben hatte.

Der Mann gab seinerzeit an, dass er am 22. März 2004 letztmalig Kontakt zu Sandra hatte. In dem Telefongespräch habe seine Bekannte ihm berichtet, dass sie mit ihrem Freund Sascha Meyer* in einem Waldstück an einem Lagerfeuer sitzen würde. Sandra habe ihm auch erzählt, dass sie kurz davor sei, Sascha zu sagen, dass sie die Beziehung zu ihm beenden wolle. Das sei das letzte Mal gewesen, dass der Bekannte Kontakt zu der jungen Frau hatte. Danach habe er sie weder gesehen noch gesprochen. Sascha Meyer hingegen sei etwas zehn Tage nach dem Lagerfeuer im Wald zu Sandras Wohnung gekommen. Mit einem Schlüssel habe er ihre Tür geöffnet und einige Gegenstände aus der Bleibe herausgeholt. Das alles sei dem Bekannten komisch vorgekommen und deshalb machte er sich auf den Weg in das Essener Polizeipräsidium, um Sandra als vermisst zu melden.

Doch zum Zeitpunkt, als die sterblichen Überreste in dem Waldstück bei Ratingen Hösel gefunden wurden, war Sandra bei der Essener Polizei nicht mehr zur Fahndung ausgeschrieben. Grund dafür war die Aussage einer Sozialarbeiterin. Ende April 2004 will die Frau Sandra Nieder auf einem Parkplatz in Essen gesehen haben. Doch jetzt steht fest, dass die Sozialarbeiterin sich bei ihrer Sichtung von getäuscht haben muss. Die Tote bewegte sich zeitweise im Obdachlosenmilieu und hatte kaum soziale Kontakte. Deshalb meldete sie niemand erneut als vermisst, nachdem die Sozialarbeiterin fälschlicherweise Entwarnung gegeben hatte.

Die Kriminalbeamten stellen Nachforschungen zu Sascha Meyer an. Der 37-Jährige ist der Polizei kein Unbekannter. Mehrfach ist der Mann wegen Körperverletzungsdelikten vorbestraft. Die Kriminalisten sind sicher, dass Sascha seine Freundin Sandra getötet hat. Wahrscheinlich, weil die junge Frau sich endgültig von ihm trennen wollte. Doch Überlegungen zum weiteren Vorgehen bei der Fahndung nach dem Täter werden je unterbrochen, als die Kriminalbeamten feststellen müssen, dass Sascha Meyer bereits seit drei Monaten tot ist. Es war im Juli 2004, die Nacht zu seinem 38. Geburtstag, zwei Monate nach Sandras Verschwinden, als sich der Mann in Düsseldorf vor einen Zug warf.

Nur der akribischen Arbeit der Mordermittler ist es zu verdanken, dass die Leiche von Sandra Nieder identifiziert, und der Mann, der ihr höchstwahrscheinlich das Leben nahm, demaskiert werden konnte. Ohne den implantierten Nagel und die dazugehörigen Schrauben hätten die Kriminalbeamten den Fall wahrscheinlich nicht lösen können – oder zumindest nicht so unerwartet schnell. Die Täterschaft von Sascha Meyer konnte zwar nicht durch objektive Spuren des Mannes am Tatort untermauert werden, doch die Kriminalisten sind sicher: Alle Befunde und die Gesamtumstände lassen keinen Zweifel aufkommen, dass Sascha Meyer nicht der gesuchte Täter ist.

*Name geändert. 

 

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Quelle:

  • Buch: „Auf Messers Schneide- Spektakuläre Fälle der Rechtsmedizin“ von Markus A. Rothschild (Hg.), Text: „Die Schrauben führten zum Erfolg“ von Wolfgang Huckenbeck und Peter Gabriel (Institut für Rechtsmedizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
  • Buch: „Kurzgefaßtes Lehrbuch der Rechtsmedizin für Mediziner und Juristen“, herausgegeben von W. Schwerd, Würzburg
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